Klaus Harpprecht: "Der kleine Schindler aus Berlin"

(erschienen in DIE ZEIT vom 6. September 2001)

Ein Besuch in der bescheidensten aller Gedenkstätten des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus

Aber die obskuren Unternehmen, die sich über Batterien von Mülltonnen in den Höfen eingenistet haben − sie werden verschwinden, samt den Graffiti, unter denen der bröckelnde Verputz verschwand. Das Authentische des Miniaturmuseums „Blindes Vertrauen“ im Fabrikflügel hinter der zweiten Toreinfahrt, die absurde Tristesse des Milieus geht mit Gewissheit zum Teufel, wenn das Anwesen saniert, aufgeputzt und einem bürgerlich−blühenden Nutzen zugeführt wird.

Der Komplex Nummer 39 war wohl schon in den Jahren des Krieges, als an die dreißig Juden in dem Gemäuer Zuflucht fanden, nicht im besten Zustand: einst Unterkunft einer Wäschefabrikation, nach der Pleite zwangsversteigert, 1935 an den jüdischen Anwalt Ernst Wachsner übertragen und 1940 durch „Arisierung“ in den Besitz von Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe gelangt, der als Oberregierungsrat im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Josef Goebbels wirkte − kein Antinazi, wie man annehmen darf. Die fürstliche Familie blieb auch während der DDR−Jahrzehnte offiziell im Besitz der Immobilie, die erst nach der Wende den rechtmäßigen Besitzern übereignet wurde.

In die Mauer der einstigen Abstellkammer am Ende der Blindenwerkstatt, in der Otto Weidt die gejagten Juden Chaim und Machla Horn mit ihren beiden Kindern lange Monate verbarg, wurde nach dem Krieg ein kleines Fenster gebrochen, aus dem der Blick auf den mondänen Betrieb der Luxushöfe fällt: umso bedrängender die Stille und die trostlose Kargheit des Verstecks, dessen Zugang durch einen Schrank getarnt war, bei keiner Kontrolle entdeckt − bis ein Spitzel die Untergetauchten verpfiff. Die Horns verschwanden in Auschwitz. Andere Schützlinge, denen Weidt in seiner Bürsten- und Besenfabrik Zuflucht gewährte, holten die Häscher aus ihren Kellergelassen, unter ihnen die hübsche Alice Licht, Sekretärin und Geliebte des Chefs.

Otto Weidt, der gelernte Tapezierer aus Rostock, Pazifist, Sozialist, Anarchist, romantischer Hasardeur, Amateurpoet und heroisches Schlitzohr: er war − anders als der böhmisch-deutsche Heldenbruder Schindler − mit seinen Abstehohren, seinen blicklosen Augen (er war halb blind), seinen hageren Zügen kein attraktives Mannsbild, trotz der Eleganz, die er nach dem Zeugnis von Inge Deutschkron − auch sie verdankt ihm das Überleben − unbekümmert zur Schau trug, mitten im Krieg, als Schieber leicht erkennbar.

Den größeren Teil seiner Fabrikate vertrieb der offizielle Wehrmachtslieferant in der Tat auf dem Schwarzen Markt: So machte er das Geld, mit dem er Nahrung für die Illegalen und vor allem die Hamsterware besorgte, mit der er die Gestapo-Kommissare und die Polizisten der Nachbarwache bestach. Ein Virtuose der Korruption. Zwei Jahre lang bewahrte er seine Schützlinge aus der jüdischen Blinden- und Taubstummenanstalt vor der Deportation. Auf die „Kriegswichtigkeit“ seines Betriebes pochend, holte er sie aus der Sammelstelle in der Hamburger Straße zurück. Mehr als fünfzig Kontrollen überstand das geheime Asyl. Dann flog es auf. Eine Hand voll seiner Schutzjuden überlebte. Die meisten nicht. Weidt wurde verhaftet. Er gab vor, man habe ihn, den fast Blinden, schnöde hintergangen. In Wahrheit wusste er zu viel − und kam frei.

Dank seiner Beziehungen wurden Alice Licht und ihre Eltern nicht nach Auschwitz, sondern nach Theresienstadt geschickt. Dort versorgte er sie − und andere − mit Fresspaketen. Dann die Nachricht, die Geliebte sei auf dem Transport nach Birkenau: Eine freundliche Seele hatte die gekritzelte Bitte erfüllt, ihre Postkarte, die sie aus dem Zug geworfen hatte, nach Berlin weiterzuschicken. Ohne Zögern unterbreitete Weidt − der sich als „Gestapo−Lieferant“ ausgab − der Verwaltung des Vernichtungslagers ein Bürsten- und Besenangebot und setzte sich in den Zug. In Auschwitz erfuhr er, dass sich seine Freundin in Christianstadt befinde, einem Außenlager von Groß−Rosen. Er überredete einen polnischen Arbeiter, Alice einen Brief und Lebensmittel zuzustecken, zahlte, wie Inge Deutschkron berichtet, die Miete für ein Zimmer in der Stadt voraus, deponierte Zivilkleider und Geld. Als der Vormarsch der Sowjetarmeen im Januar 1945 die Räumung des Lagers erzwang, konnte Alice fliehen. Wenig später meldete sie sich bei ihm zurück. Ihre Liebe zu dem kranken alten Mann aber schien in den Torturen erstickt zu sein. Sie war jung. Sie wollte leben.

Anfang 1946 wanderte sie nach Amerika aus. Weidt sollte nachkommen: eine blanke Illusion. Er starb, verarmt, wohl auch einsam, im Dezember 1947, 64 Jahre alt, an Herzversagen. Im Buch der Gerechten von Jad Vaschem ist seiner gedacht.

In Berlin stießen Studenten des Studiengangs Museumskunde der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft erst in den neunziger Jahren auf die Spuren des kleinen Schindlers in Berlin, angeregt von einer britischen Galeristin und ihrer deutschen Gehilfin. Voller Elan errichteten die gewissenhaften jungen Leute mit kargen Mitteln die Gedenkstätte für Otto Weidt. In der DDR hatte sich keine Seele für den Retter und seine Juden interessiert.