Michael Hanfeld: "Ich lasse Alice da nicht umkommen", Ein Sehender ohne Augenlicht: Die ARD zeigt "Ein blinder Held - Die Liebe des Otto Weidt"

(erschienen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom 6. Januar 2014)

Die Geschichte des Otto Weidt ist eine unglaubliche. Sie handelt von einer unglaublichen Liebe und von einem unglaublichen Zufall. Und es ist unglaublich, dass diese Geschichte kaum jemand kennt. Obwohl Inge Deutschkron sie seit langem erzählt uns aufgeschrieben hat und obwohl  sie das Zeug zu einer Hollywood-Aufführung wie die Geschichte von Oskar Schindler hat. Und es ist unglaublich gut, dass die ARD den Film „Ein blinder Held“ produziert hat und heute Abend zeigt.

Er zeigt unmittelbar, was der Terror der NS-Herrschaft, war die Totalität der Vernichtungspolitik ausmachte und was das Beispiel eines Einzelnen bedeutet, der sich dagegen auflehnt. Der, wie Inge Deutschkron sagt, Mensch blieb, als andere wegsahen und als Unmenschen sich immer neue Schikanen für jene ausdachten, die am Ende alle ermordet werden sollten. Was niemand übersehen konnte. Otto Weidt war blind, er führte in Berlin von 1936 an bis zum Ende des Krieges eine Bürsten und Besen Werkstatt, in der er bis 1943 jüdische blinde und Gehörgeschädigte beschäftigte, die er vor der Gestapo zu retten suchte. Was Ihm bis auf zwei Ausnahmen nicht gelang. Otto weidt hatte kein Augenlicht, doch er sah, was geschah.

Ein Güterzug rollt über die Gleise, eine junge Frau steckt eine Ansichtskarte durch eine Ritze, die Karte fliegt durch die Luft. Jemand findet sie und steckt sie in den Briefkasten. Der Empfänger werde werde das Porto übernehmen, steht drauf. Der Empfänger ist Otto Weidt. Die ihm da schreibt, ist Alice Licht, seine ehemalige Sekretärin, Anfang zwanzig und damit knapp vierzig Jahre jünger als er: die Frau, die er liebt. Sie teilt Ihm verklausuliert mit, dass sie von Theresienstadt nach Auschwitz verlegt wird, ins Vernichtungslager. Nach Theresienstadt waren „seine“ Juden deportiert worden, das war das Letzte, was Weidt der Gestapo abhandeln konnte, nachdem alle abgeholt worden waren. „Ich fahre nach Auschwitz. Ich lasse Alice da nicht umkommen“, sagte er, nachdem ihm Inge Deutschkron die Karte vorgelesen hat. „ Sie wollen mit nach Auschwitz? Zeigen Sie mir mal Ihre Fahrkarte“, sagt der Schaffner, als der Handlungsreisende Weidt im Zug sitzt. „Kein Mensch will nach Auschwitz.“

Diese Geschichte erzählt die 91 Jahre alte Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron unmittelbar, direkt, nüchtern und mitreißend. Es ist Ihre Geschichte. Eines der beiden jungen Frauen, die in Weidts Sekretariat arbeiteten, war sie. Nur sie und Alice Licht überlebten. Inge Deutschkron konnte sich mit ihrer Mutter verstecken, sie ging nach dem Krieg nach England, kehrte als Journalistin in die Bundesrepublik zurück, berichtete als Korrespondentin für die israelische Zeitung „Maariv“ über den Auschwitz-Prozess, der 1963 in Frankfurt begann, wanderte nach Israel aus, schrieb ihre Autobiographie „Ich trug den gelben Stern“, kehrte 1988 abermals nach Detschland zurück und trug maßgeblich dazu bei, dass die ehemalige Bürsten- und Besenwerkstatt von Otto Weidt in der Rosenthaler Straße 39 in Berlin heute ein Museum ist. Ende 2008 wurde im Gebäude zudem die Gedenkstätte „Stille Helden“ eröffnet. So lebendig Inge Deutschkron (im Interviewgespräch mit Sandra Maischberger) erzählt, so nachdrücklich setzt der Regisseur Kai Christiansen das alles nach einem Drehbuch von Haike Brückner von Grumbkow und Jochen von Grumbkow in Szene. Das ist keine didaktisch aufgesetzte Geschichtestunde, es ist keine unglückliche Mischform zwische Dokumentation und nachgestellter Szeneri. Hier geht eines fließend in das andere über, die Kraft der Erzählerin findet ihre Entsprechung in den Filmszenen, die einen unmittelbar ergreifen. Das ist Doku-Drama at its best.

Dazu trage die hervorragenden Schuspieler das Ihre bei – Julia Goldschlag als Inge Deutschkron, Henriette Confurius als Alice Licht und Edgar Selge als Otto Weidt. Ihm nimmt man den Blinden vom ersten Augenblick an ab. Bei seinem Spiel, sagt er, habe ihm die Begegnung mit Jürgen Bünte, einem Mitglied des Berliner Sehbehindertenverein in Berlin geholfen: „Als er mir die Tür öffnete und mit seinen blinden Augen meinen Blick suchte und ihn nur haarscharf verfehlte, hatte ich das wichtigste und für mich wichtigste Detail erfasst: die besondere Art, wie Blinde Ihr Gegenüber zu fokussieren versuchen.“ Genau das macht Selge als Otto Weidt: Er fokussiert und – sieht. Er sieht den Hass der Gestapo-Leute, die seine Leute bei den Kontrollenin der Werkstatt malträtieren und die er mit allerlei Waren besticht. Und er sieht die Angst der Verfolgten und sieht, dass er ihnen nicht mehr lange wird helfen können.

Wie er wenigstens Alice Licht retten konnte, davon erzählt dieser Film. Die Geschichte von Otto Weidt, der schon 1947 starb und 1971 in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde, verdient es fürwahr, erzählt zu werden.

Ein Blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt läuft um 21.45 Uhr im Ersten .