Klaus Hartung: "Ein Hasardeur der Menschlichkeit, Otto Weidt und das Schicksal der blinden Juden"

(erschienen in DIE ZEIT vom 31. März 1999)

Berlin - Im Gästebuch der Ausstellung kehrt ein Satz immer wieder: „Es hat uns gefallen.“ Das klingt ungewöhnlich, ja deplaziert. Schließlich geht es um die Ermordung der Juden. Außerdem ist wenig zu sehen. Die drei tristen Räume im düsteren Hinterhof von Berlin-Mitte dominieren die paar Exponate. Sie stellen sich selbst aus. Aber was berührt dann so sehr? Der unvermittelte Zutritt zu einer anderen Zeit? Sechs Studenten der Museumskunde jedenfalls haben Räume geöffnet, in denen eine Gegenwart der Vergangenheit bis heute überdauerte.

Blindes Vertrauen heißt die Ausstellung. Sie macht drei der hinteren Räume der Blindenwerkstatt Otto Weidt, die sogenannte Zurichterei, der Öffentlichkeit zugänglich. Eine Besenbinderei und Bürstenfabrik, 1940 von Weidt gegründet. Dort fanden etwa 30 blinde und taubstumme Juden Arbeit, Schutz, Wärme, Menschlichkeit. Ein Gedicht von Alice Licht, der Sekretärin, beschreibt die Atmosphäre jener Tage: „Man lebt im selben Reich und bildet doch seinen eignen Staat, im bangen Hoffen auf eine bessere Zeit.“ Sie schrieb vom „Präsidenten Weidt“.

„Papa Weidt“ nannte ihn die heute 76jährige Inge Deutschkron. Die agile Schriftstellerin und frühere israelische Journalistin kämpft seit Jahrzehnten um die Würdigung von Otto Weidt. Fast alles, was wir wissen, ist ihr zu verdanken. In dem Buch über das Überleben in der Berliner Illegalität („Ich trug den gelben Stern“) beschreibt sie ihre Zeit in der Blindenwerkstatt. Weidt hatte sie als Bürokraft beschäftigt, eine Tätigkeit, die Juden nicht erlaubt war. Ein Kapitel in dem Band „Sie blieben im Schatten. Ein Denkmal für stille Helden“ ist Weidt gewidmet. Inge Deutschkron hat erreicht, daß er als einer der „Gerechten der Völker“ in Jad Vaschem geehrt wird und schließlich auch der Berliner Senat seine Grabstätte in Zehlendorf zum Ehrengrab ernannte.

„Ein schwieriger Mensch“, sagt Inge Deutschkron, liebevoll. Er „lebte im Schatten“, von armer, vor allem bildungsarmer Herkunft, mit unstillbarer Sehnsucht nach Höherem. Zwei unglückliche Ehen, gescheiterter Geschäftsmann; von betonter, aber fadenscheiniger Eleganz; ein Pazifist und glühender Nazihasser. In den zwanziger Jahren trieb es ihn zu den Literaten im Romanischen Café. Er dichtete, ungelenke, hochpathetische Verse. Er litt an Atemnot, an Herzasthma, erblindete schließlich. Mit der Werkstatt wurde er zum Hasardeur der Menschlichkeit; „ein Spieler“ (Deutschkron), der mit einer scheinbar unversiegbaren Energie den Kleinkrieg gegen die Mordmaschine, gegen Razzien, Spitzel, Deportationslisten aufnahm. Er machte aus seiner Werkstatt einen „kriegswichtigen“ Betrieb, organisierte Dokumente, Arbeitsbücher, schmierte Ämter und Gestapo-Beamte, betrieb Schwarzhandel mit den begehrten Bürsten. Es fiel ihm immer etwas ein.

Szenen wie diese: Februar 1942, alle Blinden werden von der Gestapo „abgeholt“, müssen sich anfassen, um den Weg zum Möbelwagen zu ertasten. Inge Deutschkron stockt noch heute die Stimme. Otto Weidt reagiert wie immer; er streift die Blindenbinde über und nimmt den Kampf auf. Und er schaffte es; mit Geld und Erpressung. Er holte sie zurück aus dem nahen Sammellager in der Großen Hamburger Straße und führte „seine“ Juden, Hand in Hand hinter ihm, zurück in die Rosenthaler Straße 39. „Aber das wichtigste war: Respekt“, erzählt Inge Deutschkron. „Er respektierte uns als Menschen. Er lebte mit uns. Und mit uns war es nicht leicht zu leben.“ In der Werkstatt wurde gefeiert. Der Chef konnte trösten, besorgte Zigaretten und Extrarationen. Er gab Lebensmut, bei höchstem Risiko. Er organisierte Verstecke in Außenstellen. Er verbarg die Familie Horn, der die Deportation drohte, im hintersten Raum, hinter einem Schrank. Doch als sie von einem jüdischen Spitzel verraten wurde, konnte auch er nichts mehr tun.

„Heut' bist Du Inhalt meines Lebens“ Eine kleine Gedenktafel am Straßeneingang erinnert, kaum sichtbar, zwischen Graffiti und Plakatresten. Lakonisch steht da: „Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben.“ Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar. Links der leuchtende Eingang zu den Hackeschen Höfen, der auf Hochglanz polierte Jugendstil und der weltstädtische Tourismus, und dann die Nr. 39, ein katakombenartiger Schlauch, Altersschwärze, bröckelnde Mauern, Verfall - und Spuren intensiver Tätigkeit. Der Seitenflügel, wo Otto Weidts „Staat“ war, ist heute Teil des Hauses Schwarzenberg, genannt nach der „Freien Republik Schwarzenberg“, die 1945 in Sachsen gegründet und von Stefan Heym beschrieben wurde. Zu Schwarzenberg gehören ein Kino (Central), acht Ateliers, ein Club der Dead Chickens, einer Ex-Kreuzberger Rockband und Künstlergruppe, deren geschweißte Metallmonster in allen Ecken und Kellern lauern. Die „Seele“ des Unternehmens, die ehemalige Ausstellungskuratorin und gebürtige Britin Helen Adkins, betreibt dort eine Galerie und Museumsakademie. Der Ort ist eine Nische der Nach-Wende-Zeit, ein Restitutionshaus einer jüdischen Erbengemeinschaft, zu der auch eine Schulfreundin von Anne Frank gehört.

Helen Adkins hatte schon die Geschichte recherchiert und auch den Kontakt zu Inge Deutschkron gefunden. Der Anlaß für die Ausstellung war aber ein Praktikum einer künftigen Museumskundlerin bei Frau Adkins. Sechs Kommilitonen machten mit. Für ihr Projekt mußten sie monatelang entrümpeln. Da geschah, was für die 28jährige Anja Lüdemann „ein Zeichen war, daß wir das Richtige tun“. Ein älterer Mann tauchte auf, der seiner Frau erklärte: „Da hab ick gearbeetet.“ Es war Hans Israelowicz, der zum ersten Mal nach Kriegsende den Weg von Berlin-Lichtenberg zur Rosenthaler Straße fand. Nach großem Zögern erzählte er, nach noch größerem lieh er den Studenten zwei der wenigen „echten“ Exponate: eine Schuhbürste „von damals“ und seinen gelben Stern.

Die Ausstellung zeigt Kopien von Dokumenten, Briefen, Gedichten, Fotos der Belegschaft und - die Spuren einer Liebesgeschichte. Alice Licht und Otto Weidt. Sie war, als sie 1941 kam, 26 Jahre alt, er 58. In einem seiner Gedichte steht: „... Getreue Kameradschaft war der Grund / Heut' bist Du Inhalt meines Lebens.“ Als Alices Eltern in einem seiner Verstecke entdeckt werden, folgt sie ihnen nach Theresienstadt. Sie kommt auf den Transport nach Auschwitz, kann eine Postkarte aus dem Zug werfen, die Otto Weidt auch erhält. Er bricht sofort auf, um mit seinen Bürsten und Besen mit der SS im KZ ins Geschäft zu kommen. Er kann sie nicht zurückholen, bahnt aber einen Kontakt durch einen Polen an und mietet ein Zimmer, das Alice Licht dann tatsächlich bei ihrer Flucht aus einem Außenlager nutzen kann. Sie trifft Otto Weidt nach Kriegsende, aber dann wandert sie aus in die USA. In einem hellsichtigen Gedicht schreibt sie ihm: In Auschwitz habe sie sich das „Zurück“ ersehnt, aber nach Auschwitz könne sie nicht „zurück“, erst einmal jedenfalls! Otto Weidt bleibt unermüdlich, gründet ein Waisenhaus für zurückkehrende jüdische Kinder. Er stirbt 1947, ohne noch etwas von Alice zu hören.

Das ist es, was dieser karge Ort ausstrahlt, warum die Ausstellung „gefällt“: Nicht die Geschichte des Todes, sondern die komplizierten Geschichten des Lebens und Überlebens tauchen hier auf; nicht Schock und Betroffenheit werden vermittelt, sondern die Neugier für Menschen. Die Studenten versuchen gerade, die Ausstellung über den 4. April hinaus zu verlängern. Sie haben gute Chancen, denn sie stoßen auf wachsendes Interesse. Im Besucherbuch wird vehement der Ausbau zur Gedenkstätte gefordert. Gedenkstätte? Eher ist es ein Ort der Berliner Geschichte, ein Ort, der redet und dessen Text sich hören läßt. Er muß zugänglich bleiben.