Hans-Jürgen Neßnau: "Die Geschichte im Blick behalten - Jugendtheater in der Blindenwerkstatt Otto Weidt"

(erschienen in NEUES DEUTSCHLAND vom 23. Juli 2009)

Gesucht werden Jugendliche ab 15 Jahren. Sie sollen im Museum der Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Rosenthaler Straße in Mitte das Theaterstück »Vielleicht aber überstehen wir diese Zeit« gemeinsam entwickeln und aufführen. Die Inszenierung basiert auf einem Bericht des jüdischen Ehepaars Erich und Marta Frey und zeichnet die zunehmende Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen und die verzweifelten Versuche nach, sich vor den drohenden Deportationen durch Flucht und Untertauchen zu retten. 1944 wurden die Freys im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Den beiden Töchtern gelang bereits 1939 die Flucht nach Palästina und England. Erst nach dem Krieg erhielten sie den Bericht der Eltern.

»Zwei Dinge wollen wir mit diesem Projekt, das von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gefördert wird, verbinden«, sagt Eva Prausner, Leiterin der Netzwerkstelle Lichtblicke in Hohenschönhausen. Einerseits gehe es um die Auseinandersetzung mit der persönlichen Geschichte der Freys, und der sich darin spiegelnden permanenten Verschlechterung der Lebenssituation von Juden während des Faschismus, andererseits sollten die Jugendlichen selbst kreativ ein Theaterstück entwickeln.

Im Ort des Geschehens – der früheren Blindenwerkstatt – musste Erich Frey Zwangsarbeit leisten. Im September 1940 begann er die Ausbildung zum Bürstenzieher, erfährt man im heutigen Museum. Die Freys waren Deutsche jüdischen Glaubens. Obwohl Erich Frey nach Hitlers Machtergreifung zunächst nicht an Auswanderung dachte, erkannte er umsichtig, dass ein Krieg unvermeidlich war und ihnen als Juden in Deutschland schwere Zeiten bevorstanden. Die Eltern wollten den Töchtern so schnell wie möglich folgen. Wegen des Krieges wurde es allerdings immer schwieriger auszuwandern. Im Februar 1940 wurde Erich Frey seine Stelle als kaufmännischer Angestellter bei der Firma Agil gekündigt, da ihm »als Juden die notwendige Zuverlässigkeit abgesprochen werden musste«. In der Blindenwerkstatt fand er Arbeit.

»Das Museum erzählt die Geschichte der Blindenwerkstatt Otto Weidt«, erläutert Kai Gruzdz, einer der beiden Leiter. Hier, in einem Hinterhof bei den Hackeschen Höfen, habe der Kleinfabrikant während des Zweiten Weltkrieges hauptsächlich blinde und gehörlose Juden beschäftigt. Sie stellten Besen und Bürsten – auch für die Wehrmacht – her. Daher sei der Betrieb als »wehrwichtig« eingestuft worden. »Verschiedene Lebensgeschichten«, so der Leiter, »berichten von Otto Weidts Bemühungen, seine jüdischen Arbeiter vor Verfolgung und Deportation zu schützen.« Er habe etwa gefälschte Ausweise und Lebensmittel besorgt. Als die Bedrohung immer größer wurde, suchte er für einige von ihnen Verstecke – eines befand sich im heutigen Museum.

»Ich finde es wichtig, dieses historische Thema im Blick zu behalten und es mit Jugendlichen zu erarbeiten«, sagt Heike Kortenkamp, Dramaturgin und Regisseurin aus Recklinghausen, die das Theaterprojekt leitet. Damit es losgehen kann, fehlen nur noch die Jugendlichen. Der Workshop im Museum findet vom 3. bis 9. August statt. Täglich wird von 11 bis 15 Uhr geprobt. Die Generalprobe steigt am 8. August, die Premiere ist am 9. August ab 14 Uhr.