Günther Schiessl: "Der blinde Nothelfer"

(erschienen in der MITTELBAYERISCHEN ZEITUNG vom 18./19. Dezember 1999)

Das Versteck in einer Berliner Blindenwerkstatt soll erhalten bleiben und an den „Oskar Schindler vom Hackeschen Markt“ erinnern.

Die ausgetretenen hölzernen Stufen knarren noch so, wie es selbst nach 57 Jahren die jüdische Schriftstellerin Inge Deutschkron in Erinnerung hat. Damals, im Jahre 1942, lief sie in Berlin oftmals die ächzenden Treppen hoch, wenn sie in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt vor unerwünschtem Besuch gewarnt wurde und sich in einer Hausnische verstecken musste. Sie hat die Angst nicht vergessen, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie daran dachte, diese nicht vermeidbaren Seufzer der Stufen könnten sie verraten. Das Versteckspiel war gründlich eingeübt worden. Die jüdischen Mitarbeiter, die sich unerlaubt im Büro aufgehalten hatten, verschwanden in einen dunklen Winkel des Gebäudes oder streiften schnell den Arbeitskittel mit dem Judenstern über und rannten zur Werkstatt, in der Bürsten und Besen angefertigt wurden.

Wenn das Lehrmädchen, das den Eingang überwachte, auf die Klingel drückte, setzte sich der offizielle Stellvertreter des Inhabers Otto Weidt an den Schreibtisch, an dem sonst als Buchhalter ein jüdischer Mann beschäftigt war. Und das „arische“ Lehrmädchen nahm den Platz einer jüdischen Frau ein.

Von ihrem Versteck aus konnte Inge Deutschkron die Gespräche mithören, die Otto Weidt mit dem Kriminalinspektor Franz-Wilhelm Prüfer führte, dem stellvertretenden Leiter des Judenreferats bei der Berliner Gestapo. Weidt, der schwer sehbehindert war und nur noch Umrisse wahrnehmen konnte, war voller Liebenswürdigkeit gegenüber seinem Gast, hatte ihn sogar mehrmals dazu aufgefordert, ihn zu besuchen, um ihm vorführen zu können, wie er seinen Betrieb mit jüdischen Arbeitern zu leiten verstehe.

So schlitzohrig wie der durch Steven Spielbergs Film berühmt gewordene Oskar Schindler gewesen ist, so abgebrüht gab sich auch Otto Weidt. Dies brachte ihm den ehrenvollen Namen „Oskar Schindler vom Hackeschen Markt“ ein.

Die Autorin Inge Deutschkron hat dem Mann, der mehreren Juden das Leben gerettet hat, in verschiedenen Büchern ein Denkmal gesetzt. „Ab heute heißt du Sara“, das Theaterstück, das aus Deutschkrons Roman „Ich trug den gelben Stern“ entstanden ist, ließ Otto Weidt wieder aufleben. Ihre Biographie „Sie blieben im Schatten“ widmete Inge Deutschkron dann gänzlich den Menschen in Berlin, die ihr und ihrer Mutter Unterschlupf gewährt und so das Leben gerettet haben. Fünf von jenen bisher unbekannten Helden entriss sie der Vergessenheit, „denen keine öffentlichen Denkmäler errichtet werden.“ Jetzt scheint es so, als ob in einem Hinterhof am Hackeschen Markt einer jener von ihr verehrten „stillen Helden“ ein ganz besonderes Denkmal erhält. Der Gebäudekomplex Rosenthaler Straße 39 wurde (noch) nicht so aufpoliert wie die unmittelbar benachbarten Hackeschen Höfe mit ihren edlen Kneipen und Vergnügungsstätten. Hier ist noch Platz für Ateliers mit alternativer Kunst und hier im Seitenflügel ist die Blindenwerkstatt im Originalzustand erhalten geblieben. Im Rahmen einer Studienarbeit realisierte eine Gruppe von sechs Studentinnen an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft die Ausstellung „Blindes Vertrauen – Versteckt am Hackeschen Markt 1941 - 1943“.

Während ihres Studiums der Museumskunde hatten sich die Studierenden mit der „anderen Seite der Hackeschen Höfe“ beschäftigt. Direkt angrenzend an die Glanzsanierungen, die von der Berlin-Werbung mit Stolz präsentiert werden und die zu einem Internationalen Anziehungspunkt geworden sind, durchforschten sie den heruntergekommenen Block mit der Adresse Rosenthaler Straße 39. Hinter der schmalen Durchfahrt des vierstöckigen Vorderhauses öffnen sich entlang eines langgestreckten Gebäudes drei kleine, verwinkelte Höfe.

Auf den Spuren der Hausgeschichte stießen sie auch auf die einstige Blindenwerkstatt, in der Otto Weidt an die 30 blinde, sehbehinderte und taubstumme Arbeiter beschäftigte. Die meisten von ihnen kamen aus einem jüdischen Blindenheim in Berlin. Als die Deportationen zunahmen und Otto Weidt machtlos zusehen musste, wie die jüdischen Opfer aus den Häusern geholt wurden, versuchte er mit der Ankündigung, kriegswichtige Waren herzustellen, die Arbeiter als unersetzlich zu erklären, was ihm eine Zeit lang mit Hilfe von Bestechungen der Gestapo auch gelang. Unvergesslich bleibt für Inge Deutschkron der schreckliche Augenblick, als die Nazischergen in die Werkstatt stürmten und die Blinden und Taubstummen anbrüllten, sich zum Abtransport bereit zu machen.

Sie wurden auch abgeführt. Doch in gewohnter Manier legte sich Otto Weidt die Blindenbinde um den Arm, ergriff seine Stock und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Er habe es ohne Frage der Bestechlichkeit der Gestapo zu verdanken gehabt, dass er „seine Blinden“ wenige Stunden später tatsächlich aus dem Sammellager wieder abholen und zurück in die Werkstatt habe bringen können, schreibt Inge Deutschkron. Eine Nonne wurde Zeugin der Befreiung; sie beschrieb, wie sie vom „Bahnhof Börse“ (heute Hackescher Markt) gekommen sei und dem „Zug der Blinden“ begegnete. Sie schilderte die „Bürstenbinder mit dem Stern auf der Brust, die sich aneinander festhielten, einander stützten, und vor ihnen ging Otto Weidt“ zurück in die Werkstatt. Doch dann war Untertauchen die einzige Chance, um auch in Berlin überleben zu können.

Im Februar 1943 versteckte Otto Weidt die vierköpfige Familie des Bürstenmachers Chaim Horn am Ende der schlauchförmige angelegten Zurichterei in einer Abstellkammer in der Größe von zehn Quadratmetern. Die Tür wurde mit einem mit einem großen Kleiderschrank  verstellt, dessen Rückwand entfernt war. Kleider und Mäntel verdeckten den Blick auf das Versteck. Doch nach dem Verrat eines Spitzels wurde am 5. Oktober 1943 die ganze Familie von der Gestapo aus der Kammer gezerrt. Ihre Spur verliert sich in Auschwitz, wohin sie am 14. Oktober 1943 vom Sammellager in der Großen Hamburger Straße aus mit dem „44. Osttransport“ gebracht wurde. Kaum zu glauben, doch in den Akten eindeutig belegt ist, wie der fast blinde Werkstattinhaber Otto Weidt nach Auschwitz fuhr, um die Voraussetzungen dafür  zu schaffen, dass seine große Liebe Alice Licht, die als Jüdin bei ihm beschäftigt gewesen war, aus dem KZ fliehen konnte.

Über einen Zivilarbeiter gelang es dem Nothelfer, Kontakt mit ihr aufzunehmen, als sie in ein Nebenlager des KZ Groß-Rosen verlegt wurde. Sie bekam die Information, dass Otto Weidt in einer nahen Stadt ein Zimmer gemietet, Geld und Kleidung für sie hinterlegt hatte. Ihr gelang die Flucht und die Rückkehr nach Berlin. Kurz nach Kriegsende wanderte sie in die USA aus. Seinem eindringlichstem Flehen, zu ihm zurückzukehren, kam sie nicht nach.

Die Liebesgedichte, die er seiner Alice gewidmet hat („...Heut’ bist Du Inhalt meines Lebens, / Heut’ küss’ ich Deinen roten Mund /  und weiß, ich lebte nicht vergebens...“) sind jetzt in der Ausstellung nachzulesen. Platz dafür fand sich in der Werkstatt, die ebenso wie das Versteck der Familie Horn fast im ursprünglichen Zustand die Zeiten überdauert hat. Nachdem Unmengen von Gerümpel weggeräumt waren, offenbarte sich die ganze herzergreifende Aussagekraft dieses Ortes.

Nur karg möbliert, mit einigen Fotos, Briefen, Gedichten und anderen Dokumenten ausgestattet, zieht der Raum in seinen Bann. Die Konturen eines Schrankes verwehren den Zugang von der früheren Werkstatt zu der winzigen Abstellkammer nicht. Die Beklemmung wird spürbar, die die vier um ihr Leben bangenden Menschen befallen haben muss, wenn sie hier über mehrere Monate hinweg Zuflucht suchten. Die Ausstellung, zunächst nur für wenige Monate geplant, wird auch im Jahr 2000 an den Wochenenden wieder geöffnet sein.

Mitarbeiter des Anne-Frank-Zentrums sind die Betreuer. Geschäftsführer Thomas Heppener ist zuversichtlich, wie er diese Woche erklärte, dass die Räume erhalten bleiben können. In Gesprächen mit den Besitzern, einer Erbengemeinschaft, und dem Jüdischen Museum werden derzeit verschiedene Lösungsmöglichkeiten diskutiert. Einigkeit besteht, dass dieses von Studenten initiierte Projekt nicht nur hier, aber gerade auch mitten im Zentrum der Berliner Renovierungswut der Nachwende-Zeit, einen wichtigen Beitrag leisten kann zur aktuellen Diskussion um Erinnern und Gedenken und dass es in packender Weise dazu anregt, darüber nachzudenken, wie mit den Spuren der Vergangenheit umzugehen ist.