Ulli Kulke: "Wo und wie 1700 Juden die Nazis überlebten"

(erschienen in DIE WELT vom 15. September 2009)

Schweigen war die oberste Regel der „stillen Helden". Und so wurden erst lange Jahre nach dem Krieg viele Geschichten von Helfern bekannt, die etwa 1700 Berliner Juden versteckten. Diesen Schicksalen widmet sich jetzt eine Ausstellung in Berlin – in Räumen, in denen damals viele untergetaucht waren.

Den 1.Oktober 1944 wird Horst Rothkegel nie vergessen. Es war der Tag, an dem er als 22-Jähriger seine erste Stelle als Kaplan antrat. In der Herz-Jesu-Kirche im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. „Ich habe noch eine besondere Erbschaft für Sie im Keller“, offenbarte ihm da sein Vorgänger, Pater Heinrich Kreutz, als die Übergabe der Amtsgeschäfte gegen Abend schon fast beendet war. „Ich dachte, er meinte kostbare Bücher oder so was“, erinnert sich Rothkegel, heute 87. Doch dann hörte er: „Im Heizungskeller unter der Kirche hat ein Jude seinen Schlafplatz, helfen Sie ihm, er darf nicht entdeckt werden.“

Ab sofort war es an dem jungen Kaplan, den zwei Jahre zuvor schon untergetauchten Erich Wolff vor der Außenwelt abzuschirmen, ihm Essen zukommen zu lassen, eine Legende bereitzuhalten für den Fall, dass ihn doch mal jemand sieht. Die Chancen, dass Wolff nicht entdeckt würde, standen nicht einmal so schlecht. Beheizt werden durfte die Kirche sowieso nicht mehr, niemand hatte Anlass, Wolffs Unterschlupf aufzusuchen. Und der weitläufige, verwinkelte Gebäudekomplex mit Mädchenstift, Pfarramt und einem runden Dutzend Wohnungen – unter anderem auch Rothkegels – bot gute Deckung. Über einen zweiten Ausgang und ein gesondertes Treppenhaus hätte Wolff, falls doch einmal unerwünschter Besuch gedroht hätte, sogar zur Orgelempore hinaufgelangen können, um von dort die Kirche zu verlassen.

50 Jahre war der Berliner Wolff da schon alt, als Rothkegel ihn im Keller kennenlernte. Gemeinsam mit seinem Bruder Walther hatte der gelernte Kaufmann 1932 die elterliche Druckerei geerbt, die 1938 von den Nationalsozialisten enteignet wurde. Walther kam im Juni 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen um, Erich tauchte ab.

Das Schicksal Wolffs ist nur eines von schätzungsweise 1700 Juden, die in Berlin den Krieg im Untergrund überlebten. Manche von ihnen Tag und Nacht versteckt und nur im Kontakt zu einem oder mehreren mutigen Helfern. Andere hatten lediglich einen geheimen Schlafplatz und wagten sich tagsüber nach draußen, unter Menschen, unerkannt, hatten bisweilen mehrere Anlaufstellen, wo sie mit Nahrung und anderem Lebenswichtigen versorgt wurden. Wieder andere gingen regelmäßig arbeiten, ausgestattet mit einer zweiten Identität und gefälschten Papieren, die ihnen Unterstützer hatten zukommen lassen.

Das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in Berlin-Mitte widmet sich jetzt in einer recht kleinen, aber durchaus beeindruckenden Ausstellung dem Schicksal jener „U-Boote“, wie die versteckten Juden sich zur Nazizeit selbst bezeichneten: „Dem Leben hinterher – Fluchtorte jüdischer Verfolgter“. Die Fotografinnen Sibylle Baier und Daniela Friebel haben sich auf Spurensuche begeben und eine ganze Reihe von Räumen gefunden, deren Mauern in den Kriegsjahren unermessliche Angst und Verzweiflung sahen.

Initiatorin der Ausstellung ist die deutsch-israelische Schriftstellerin Inge Deutschkron, die ebenfalls den Krieg als Jüdin in Berlin überlebte – von 1941 bis 1943 in der Blindenwerkstatt selbst, deren Besitzer Otto Weidt durch Bestechung, Passfälschung oder schlichtes Verstecken in seiner kleinen Fabrik vielen der Verfolgten einen Arbeitsplatz bot und sie so vor der Deportation nach Auschwitz rettete.

So ist im Haus der Ausstellung ebenfalls eine Gedenkstätte „Stille Helden“ untergebracht, in der die Helfer der Untergetauchten geehrt werden. Die ehemalige Blindenwerkstatt ist in einigen Räumen noch erhalten wie 1945. Fast alle anderen Orte aber sind heute, 64 Jahre später, nicht mehr wiederzuerkennen. Eine ehemalige Farbspritzpistolenfabrik in der Kreuzberger Oranienstraße, in deren Hintergemächern der Arzt Arthur Arndt und seine Frau Lina zwei Jahre lang hausten, ist heute das großzügige Loft einer Künstlerin.

Jene Lauben in der Lichtenberger Kolonie Dreieinigkeit, in denen der spätere Showmaster Hans Rosenthal sich versteckt hielt und sich nur bei nächtlichen Bombenangriffen herauswagte, wenn alle im Luftschutzkeller waren, sind längst einer Wohnsiedlung gewichen. Und im Heizungskeller, wo Erich Wolff zwischen dem riesigen Kohlenhaufen und den Schamottkesseln nächtigte, blitzt heute eine Heizanlage, die alle modernen Anforderungen an Effizienz und Umweltschutz erfüllt.

Wolff gehörte zu denen, die sich tagsüber nach draußen wagten, „im Keller würde ich verrückt werden“, sagte er einmal zu Rothkegel. Ansonsten sprachen die beiden Männer wenig miteinander. Auch nicht, als Rothkegel seinen Illegalen mal mit zu seinen Eltern nahm, weil es im Winter 44/45 doch zu kalt wurde. Nur einmal, da musste Wolff seinem Helfer am Abend doch mal erzählen, was er gerade erlebt hatte. Er habe draußen im Park auf einer Bank gesessen, als zwei der berüchtigten „Kettenhunde“ auf ihn zukamen – Feldjäger der Wehrmacht, die ihren Dienstausweis an einem kleinen Kettchen um den Hals trugen. Seine Papiere hätten sie sehen wollen, berichtete er. Wolff habe so getan, als ziehe er überhaupt nicht in Betracht, dass er sich als Arier ausweisen müsse, wehrte sich nur betont empört gegen den Verdacht, er sei ein Deserteur und habe sich von seiner Einheit abgesetzt. Und so habe Wolff – seit einer Krankheit im 17.Lebensjahr beinamputiert – nur kurz sein Hosenbein hochgezogen und auf seine Prothese gezeigt: „Das ist mein Ausweis.“ Die Kettenhunde zogen ab.

„Er war sehr schweigsam“, erinnert sich Rothkegel, aber „kaltblütig war der schon auch.“ Was tun, wenn ein Arzt gebraucht wird? Neben der ständigen Angst vor dummen, enttarnenden Zufällen oder, mehr noch, vor Denunzianten hatten Helfer wie Untergetauchte bisweilen auch ganz simple logistische Herausforderungen zu bewältigen. Die Hygiene, Notfälle, die einen Arzt erforderten – all dies wuchs für diejenigen zum größeren Problem, die jahrelang in Verschlägen neben Fabrikräumen ausharrten oder auch in fremden Wohnungen mit Toilette auf halber Treppe, umgeben von unberechenbaren Zeitgenossen hinter der Nachbarstür. Für Rothkegel war all das kein Thema, Wolff erledigte diese Dinge selbstständig, „ich habe keine Ahnung, wo“. Die Beschaffung von Lebensmitteln war da schon schwieriger und keinesfalls nur eine Frage von Geld oder Angebot. Wo sollte man die Lebensmittelmarken herbekommen, die personenbezogen ausgeteilt wurden und ohne die es nichts gab? Gewiss, auch hierfür gab es einen Schwarzmarkt, aber wenn einzelne Personen halbe Familien untergebracht hatten und ernähren mussten, lauerte ständig die Gefahr aufzufallen. Wer die vielen aufwühlenden Geschichten liest, die die Autorin und Ausstellungsmitarbeiterin Anke Schnabel aus Datenbanken gesammelt hat über jüdische „U-Boote“ und die in den bald erscheinenden Ausstellungskatalog einfließen sollen, der erkennt, was den meisten von ihnen das Überleben ermöglicht hat. Viele von ihnen hatten mehrere Anlaufstellen und Eingeweihte, pendelten von Wohnung zu Wohnung.

Schnabels Geschichten zählen viele Fälle auf von spontaner Hilfsbereitschaft, auch gegenüber vollkommen fremden Juden, die von entfernt bekannten Dritten „empfohlen“ wurden. Erich Wolff etwa pendelte zwischen der Herz-Jesu-Kirche und der Skalitzer Straße in Kreuzberg, wo eine alte Bekannte von ihm wohnte, die ihn unterstützte, aber wegen der Nachbarn nicht unterbringen konnte. Hier und da gab es für Untergetauchte, die keinen Platz für die Nacht gefunden hatten, auch Notlösungen. Viele etwa wussten, dass es im Mausoleum des Kammersängers Joseph Schwarz auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee unterm Gewölbe eine Glasplatte gab – die Öffnung zu einem Schlafplatz im Dach.

1700 Juden überlebten in Berlin ihre Illegalität. Doch viele der Untergetauchten wurden entdeckt, durch dumme Zufälle, mehr noch durch Denunziation. Denn so viele Helfer hier zu „stillen Helden“ wurden, so sehr verbreitet waren auch die Verräter. Dabei konnte sich keiner von ihnen darauf berufen, er habe schließlich sein eigenes Leben retten müssen. Todesurteile für Judenbegünstigung wurden nicht gefällt. Mehrmonatige Haftstrafen, auch vorübergehende Einlieferungen in Konzentrationslager waren die Regel. Eine Frau, die einen Heranwachsenden für eineinhalb Jahre in ihrer Wohnung in Weißensee versteckte, kam, nachdem die Polizei den Untergetauchten entdeckte, mit einem Bußgeldbescheid über 20 Reichsmark davon, wegen „unterlassener Meldung eines zugezogenen Juden“. Der Junge kam ins KZ Sachsenhausen. Oft waren blitzschnelle Umzüge von einem Versteck in irgendeinen neuen Unterschlupf nötig, wenn Anzeichen für eine Enttarnung aufkamen. Immer wieder erforderte es die Situation, sich anderen, auch Fremden gegenüber, zu offenbaren, ohne zu wissen, wie der neu Eingeweihte reagieren würde. Und doch war das Schweigen oberste Regel der „stillen Helden“.

Und so kam erst lange Jahre nach dem Krieg heraus, dass in dem Gebäudekomplex der Herz-Jesu-Kirche nicht nur Erich Wolff untergetaucht war, sondern dass Kollegen von Horst Rothkegel noch mehr Juden vor dem Zugriff versteckt hatten, mindestens drei. Mathias Kohl, der heutige Küster, der unten im Keller eine kleine Ausstellung über die Verstecke in seiner Kirche unterhält, sagt: „Wahrscheinlich waren es viel mehr.“