Evelyn Bartolmai: "In der Filiale des Jüdischen Museums - Ausstellung mit Postkarten aus Theresienstadt"

(erschienen in JÜDISCHES BERLIN 39, 12/2001)

Man läuft schnell achtlos vorüber am Haus Nummer 39 in der Rosenthaler Straße in Berlins Mitte. Eine zugige Toreinfahrt, die den Blick in eine trostlosen Hinterhof freigibt, und doch war sie vor Jahrzehnten eine Pforte, die Trost, Zuflucht und Hilfe bot. Nur der aufmerksame Passant entdeckt sie nicht sehr große Metallgusstafel auf dem Gehweg, die in knappen Worten berichtet, dass sich an diesem Ort die Blindenwerkstatt Otto Weidt befand, der während der Nazizeit jüdische Verfolgte beschäftigte, beschützte und unterstützte. Eine enge Treppe führt hinauf in den ersten Stock im Seitenflügel, drei ehemalige Arbeitsräume beherbergen heute ein kleines Museum. Im größeren Zimmer informiert die Dauerausstellung über den Bürstenfabrikanten, den seine Mitarbeiter liebevoll „Papa Weidt“ nannten. Im kleineren Nebenraum gibt es derzeit die Sonderausstellung „Zwischen den Zeilen – Postkarten aus Theresienstadt“. Mehrere Dutzend täuschend echt kopierte Postkarten sind wie auf einem Postamt in Fächer sortiert, man kann sie herausnehmen und die altmodisch-deutsche Schrift zu entziffern versuchen. Andere tragen einen trockenen Textvordruck, bei dem nur noch das Datum und die Unterschrift auszufüllen waren. Ausnahmslos alle Postkarten kommen aus dem von den Nazis als sogenanntes „Musterghetto“ errichteten Theresienstadt, und die Botschaften kreisen ebenso ausnahmslos um ein einziges Thema. Bestätigt wird der Erhalt von Paketen, die den Nazis als propagandistischer Beweis für die „Normalität“ des Lagers galten, für die dort Inhaftierten jedoch lebens- und überlebenswichtig waren. Nicht nur wegen des Brotes, des Sirups oder der Kartoffeln, die die Hungerrationen der Lagerinsassen nur notdürftig aufbessern halfen, auch wegen des Packpapiers, auf dem die Kinder in Theresienstadt wieder malen und schreiben konnten. Und ganz besonders, weil der Erhalt eines Paketes ein Zeichen war, dass es jenseits der Festungsmauern dem Terror zum Trotz noch immer Menschen gab, die die Verschleppten und zur Nummer Degradierten nicht vergessen hatten.

Mehr als 150 solcher Lebensmittelpakete hat der Kleinunternehmer Otto Weidt ab 1943 nach Theresienstadt geschickt, die neben dem Dank für die Sendung auch eine Vielzahl scheinbar nebensächlicher Bemerkungen enthalten, aus denen der Eingeweihte Botschaften eben „zwischen den Zeilen“ herauslesen kann. Damit sollte die Zensur getäuscht werden, denn natürlich war es verboten, Informationen über die wahren Zustände im Lager nach außen dringen zu lassen, und es sollte durch die Genehmigung solcher persönlicher Bemerkungen ja auch der Eindruck vermittelt werden, es sei alles in bester Ordnung. Wenn Hulda Basch beispielsweise am 26. Februar 1944 schreibt, dass „Ali und Familie von Deinem Bruder aus Essen auch regelmäßig Post hat“, so ist das nichts anderes als eine dringende Bitte um weitere Unterstützung, denn Otto Weidt, was alle wussten, hatte gar keinen Bruder, der hätte helfen können. Dafür aber ein recht dichtes Netz von Vertrauten, die bei der Beschaffung der rarer werdenden Lebensmittel behilflich waren, und ebenfalls als Adressaten der Postkarten auftauchten. Nicht zuletzt auch das ein Trick, um für Otto Weidt das Risiko des intensiven Postverkehrs mit Theresienstadt zu mindern.

Leise und unspektakulär war die Hilfsbereitschaft des Otto Weidt mit seinen jüdischen ehemaligen Mitarbeitern, und doch haben mindestens 25 Menschen dank seiner Pakete überlebt, wie Alice Licht nach der Befreiung berichtet hat. Leise und unspektakulär ist auch das kleine Museum, das dem zwar von Yad Vashem als „Gerechter der Völker“ Geehrtern, in Deutschland aber weitgehend unbekannten Otto Weidt endlich auch an der Stätte seines Wirkens ein Denkmal setzt. Seit Februar ist das Museum „Blindenwerkstatt Otto Weidt“ eine Dependance des Jüdischen Museums Berlin, eine organisatorische Entscheidung, die eine sehr glückliche Verbindung zu einem wichtigen Kapitel deutsch-jüdischen Zusammenlebens in Berlin schafft.