Christine-Felice Röhrs: "Jüdisches Museum: Papa Weidt, Rosenthaler 39"

(erschienen in DER TAGESSPIEGEL vom 9. September 2001)

58 Jahre ist das her. Mit gesenktem Blick lief er zur Arbeit. So unauffällig wie möglich. Aus der gesichtslosen Menge hätte jede Sekunde jemand auftauchen können, dem es gefiel, ihn zu treten. Oder ihn zu töten, das wäre nicht einmal Mord gewesen. Damals war er ein Nichts. Alle konnten das sehen, an dem gelben Stern.

Harmlos sieht das Stückchen Stoff jetzt aus, wie es an der Wand hängt, ziemlich verknittert. Er steht davor. Ganz langsam führt er den Finger zum Glas, das den Stern an die Wand presst. So vorsichtig tippt er dagegen, als befürchte er, das Stück könne ihm entgegenspringen und sich wieder an seinen Kragen heften. Er wendet den Blick ab. „Damals hieß ich Hans Israel Israelowicz“, sagt er. Damals war draußen die Hölle los. Aber hier oben war er sicher. Hier, bei Otto Weidt.

Hans Israelowicz ist Jude, heute 77 Jahre alt, und einer von zwei Überlebenden, die noch von Otto Weidt erzählen können. Vom „Berliner Schindler“, dem Bürstenfabrikanten, der zwischen 1940 und 1945 Dutzende Juden - blinde, behinderte und gesunde - in seiner Blindenwerkstatt am Hackeschen Markt beschäftigte, der sie mit Lebensmitteln versorgte, vor dem Abtransport in Konzentrationslager schützte, der sie sogar noch zurückholte, als die Gestapo die Arbeiter schon kassiert hatte, und die Möbelwagen Richtung Gasbunker schon bereit standen. Hans Israelowicz war mehrere Monate bei Weidt, bevor er untertauchte und als Hans Paulick das letzte Kriegsjahr überstand. Er kennt jene, die starben und jene, die Otto Weidt retten konnte.

Er kennt auch Inge Deutschkron, die andere Überlebende. Die in Israel lebende Autorin hat in Büchern an „Papa Weidt“ erinnert. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass aus der Werkstatt 1999 ein Museum wurde - nach jahrzehntelanger Vergessenheit. Seit Beginn dieses Jahres ist hier eine Dependance des Jüdischen Museums.

Für seinen Besuch bei Otto Weidt trägt Hans Israelowicz den grauen Anzug. Und Krawatte - eine besondere Verneigung vor dem Anlass. Wie immer ist Emil, die Krücke, dabei, denn seit einer Hirnhautentzündung im Säuglingsalter ist Israelowicz gehbehindert. Als Jude und „Krüppel“ war er aus zwei Gründen Zielscheibe der Nazis.

Vorhin hat Hans Israelowicz noch ein wenig unsicher gewirkt, wie er da durch den schlauchartigen, altersgeschwärzten Hinterhof auf den Eingang der Blindenwerkstatt zuging. Nein, aufgeregt sei er nicht, ist doch alles schon so lange her. Israelowicz ist kein sentimentaler Mann. Aber ob es richtig ist, zu erzählen? Und ob noch alles in seinem Kopf ist? 55 Jahre lang hat er diesen Ort gemieden, wie auch die anderen Adressen aus seinem „minderwertigen Leben“. Erst vor drei Jahren war er zum ersten Mal wieder hier. Seitdem zwei Besuche. Ach, wird schon werden. Israelowicz ist auch ein mutiger Mann, das war er schon immer.

19 Jahre alt ist Hans Israelowicz, als er am 14. Dezember 1943 in der Weidtschen Bürstenmacherei ankommt. So viel ist da schon geschehen. Der Vater, Besitzer eines Bettengeschäftes an der Brunnenstraße in Mitte, ist tot. Der Verlust des Ladens in der Reichspogromnacht hatte dem Herzkranken zu viel Kummer bereitet. Hans Israelowicz und seine Mutter hatten sich seitdem den Umständen entsprechend durch die Nazi-Zeit geschlagen. Doch 1943 wird Hans verhaftet, auf dem Weg zur Leihbibliothek Sobeck an der Stralsunder Straße, und zum Gestapo-Quartier an der Großen Hamburger Straße geschafft.

Als Letzter steht Israelowicz dort in der Schlange derer, die weggebracht werden sollen. Wohin? Niemand gibt eine Antwort. Man steckt ihm eine Transportnummer an den Kragen. Energisch reißt er sie wieder runter. „Kommt nicht in Frage“, schreit er. Und lügt: „Ich bin Mischling.“ Hätte er in der Schlange gewartet bis vorne zum stempelnden Nazi - „ich wäre lange tot“, sagt er.

Als „Mischling“ wird er in das Lager an der Rosenstraße gebracht, 100 Mann, ein Raum, ein Eimer als Klo. Und er gehört doch zu den wenigen Glücklichen, die nach den Protesten von Ehefrauen und Müttern schließlich freigelassen werden - eine Kurzfassung für Ereignisse, die ihm damals Sekunde für Sekunde wie ein Albtraum erschienen sein müssen. Eine Odyssee folgt, von einer Arbeitsstelle zur nächsten. Einmal muss er Karteikarten sortieren. Und hält unvermutet die seines Onkels in der Hand. TH Transport, steht drauf. Theresienstadt. Vor Emotionalität scheut Israelowicz zurück, aber jetzt wird die Stimme doch brüchig: „Mensch, was habe ich da noch von geträumt.“

Auf Empfehlung von „irgend jemandem“ kommt Israelowicz schließlich zu Otto Weidt. Und so kurz er auch hier ist - die Monate sind ihm als die schönsten in der schlimmen Zeit in Erinnerung. Denn hier kann er aufatmen, nach einer Zeit, die dazu zwang, ständig vor lauter Angst die Luft anzuhalten, bis die Lunge brannte und das Herz bis in den Hals schlug. Aber bei Weidt ist es „gemütlich und ruhig“. Keiner drängelt, keiner schimpft. Es wird gelacht. Israelowicz erinnert sich an Mucki Weiß, „tot“, und an Siegbert Lewin, den Vorarbeiter, der ihm das Bürstenmachen beibrachte, „auch tot“. Auf dem Schwarz-Weiß-Porträt der Belegschaft an der Wand zeigt er sie, und sie lächeln auf ihn herunter. Ein friedlicher Mikrokosmos in einer braunen Welt.

Muschelsülze für jeden

Da oben habe das Radio gehangen, Israelowicz weist in eine leere Zimmerecke, und leise wurde „England gehört“. Hier ist David Burger, BBC, taaatata, Israelowicz singt das Erkennungszeichen. Vormittags schickt Weidt Israelowicz oft zum Fleischer Koschwitz auf der Oranienburger. Der Junge zieht los, den Stern unter einer Schürze verborgen und kauft „Muschelsülze“. Viel Gallert, wenig Muschel, für jeden ein kleines Stück. Ein kleines Stück Normalität.

Der Weidt, ja, hmmm. Viel hat Israelowicz mit dem Chef damals nicht geredet. „Verschlossen war der, und immer hat er gehustet.“ Otto Weidt, selbst fast erblindet, war auch Asthmatiker. Israelowicz hört per Flüsterpost, dass kurz zuvor das Versteck der Familie Horn verraten worden ist. Weidt hatte sie im Lager versteckt. Diese Niederlage gegen die Nazis kommt ihn hart an.

Denn für Otto Weidt ist der Widerstand gegen Razzien, Spitzel und Deportationslisten ein privater Feldzug, den er unbedingt gewinnen will. Aus Pazifismus und Menschenliebe. Weidt, ein „Spieler“, wie Inge Deutschkron einmal gesagt hat, besticht, lügt, tauscht. In großem Stil mischt er nach außen hin mit in seinem „wehrwichtigen Betrieb“. Trittsicher erwischt er den schmalen Grat zwischen Subversion und Anpassung. Letztendlich schafft er es, drei Menschen vor dem Tod zu bewahren.

Heute, als Hans Israelowicz in diesen Räumen sitzt, ist fast alles wie früher. Zwar ist von den Möbeln der Werkstatt nichts mehr da. Aber der bläulich-blätternde Anstrich aus den 30er Jahren in der Werkstatt und der rosafarbene im Versteck der Horns, der Fußboden auf dem Otto Weidt und seine Juden herumgingen und der Ofen, an dem sie sich wärmten, das alles gibt es noch. Zu verdanken ist dies dem Umstand, dass sich die Erbengemeinschaft des Hauses über 30 Jahre nicht einigen konnte, was mit dem bröckelnden Altbau passieren solle. So entging das Haus der Sanierungswelle, während die Hackeschen Höfe nebenan zum lärmerfüllten Treffpunkt von Touristen und Trend-Bewussten wurden.

Museum ist für diese Räume eigentlich der falsche Ausdruck. Nur wenige Ausstellungsstücke - darunter die letzte Bürste, die Hans Israelowicz fertigte und die er seitdem zum Schuheputzen benutzt hat - sind zu sehen. Die Wände, der Boden, der Ofen, sie haben ihre eigene Geschichte. Authentisch ist dieser Ort, lebendig, statt konserviert-museal. Otto Weidt würde seine Werkstatt auch heute noch wiedererkennen. Doch zwei Jahre nach Kriegsende ist er gestorben, verarmt, nachdem er sein letztes Geld in ein Heim für KZ-Wiederkehrer und jüdische Waisen gesteckt hatte.

Hans Israelowicz aber lebt. „Es war doch ganz richtig, das alles zu erzählen“, sagt er, als er die Blindenwerkstatt verlässt, um in sein friedliches Leben in Lichtenberg zurückzukehren. Er freut sich schon auf ein Fest kommende Woche. Dann sind er und seine Frau 50 Jahre verlobt.