Sven Felix Kellerhoff: "Das Versteck im Schatten der Gestapo"

(erschienen in BERLINER MORGENPOST vom 5. Dezember 2006)

Otto Weidt rettete Juden vor dem Tod. Seine alte Werkstatt ist wieder Museum.

Bürsten können Leben retten; jedenfalls gute Bürsten. Die aus der Besen- und Bürstenbinderei Otto Weidt in Mitte bewahrten vor gut sechzig Jahren mindestens vier Menschen vor dem fürchterlichen Tod in deutschen Vernichtungslagern. Dutzenden weiteren Verfolgten versuchte Weidt ebenfalls zu helfen, doch gelang ihm ihre Rettung nicht – was an Verrat und Missgunst von Nachbarn lag, nicht an der Qualität seiner Produkte. Aber warum gerade Bürsten?

Weil sie „wehrwichtig“ waren und an die Wehrmacht verkauft wurden – und sicher auch, weil obere SS-Chargen gern gute Bürsten hatten, mit denen ihre Burschen sie hohen schwarzen Lederstiefel auf Hochglanz zu bringen hatten. Weidts Geschäftsidee war ebenso einfach wie einleuchtend: Er beschäftigte Blinde, vor allem blinde Juden – nach außen hin, weil sie besonders billige Arbeitskräfte waren, in Wirklichkeit, weil Weidt sie so für eine gewisse Zeit vor den schlimmsten Folgen des Rassenwahns schützen konnte.

Gestern Nachmittag haben Kulturstaatsminister Bernd Neumann und Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz die jüngste Gedenkstätte der Stadt feierlich eröffnet. Von heute an ist das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt nach fast zehnmonatiger Schließung wieder für das Publikum geöffnet, in wesentlich erweiterter und sowohl ästhetisch wie inhaltlich gelungener Form.

Durch eine Geheimtür zum Versteck

Im Seitenflügel des Hauses Rosenthaler Straße 39, dem letzten unsanierten Bau am Hackeschen Markt, liegt im ersten Stock die lange Zimmerflucht, die das neue Museum bildet. Die im Februar wegen Einsturzgefahr geschlossene kleine Ausstellung hatte nur ein knappes Drittel der Werkstatt umfasst. Diese Räume, die genau so verfallen aussehen wie bisher, sind auch weiterhin der Höhepunkt der Gedenkstätte. Dort kann man durch eine symbolische nachgebaute Geheimtür in den abgetrennten fensterlosen Raum gehen, in dem von Anfang bis Oktober 1943 die Familie Horn versteckt lebte. Die Tür zu diesem letzten, bedrückend engen Gelass in Weidts Werkstatt war durch einen Schrank verdeckt.

Man käme nicht darauf, dass dieser Raum direkt an die Hackeschen Höfe grenzt und die zahlreichen Café-Besucher dort auf jenes von Efeu überwucherte, zugemauerte Fenster schauen, hinter dem sich vier Berliner monatelang und nur wenige hundert Meter von der Berliner Gestapo-Zentrale entfernt versteckten. Ein Spitzel verriet die Verfolgten schließlich. Sie wurden festgenommen, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Otto Weidt konnte mit Mühe und Not und allerlei Bestechungen Schlimmeres für sich und die übrigen von ihm unterstützten Juden abwenden.

Der Kleinfabrikant, kein wohlhabender Mann, aber ein klarer Gegner des Nationalsozialismus und überzeugter Pazifist, entwickelte die Bestechung von Gestapo-Beamten und NS-Funktionären zur hohen Kunst. Er konnte nicht annähernd so „spendabel“ sein wie der vielfach bekanntere Kriegsprofiteur Oskar Schindler – und dennoch vermochte Weidt es, den Teufelskreis von Ausgrenzung, Deportation und Ermordung wenigstens bei einigen Menschen zu unterbrechen.

Zahlreiche bisher unbekannte Dokumente

Im neuen Teil des Museums werden angemessen nüchtern neueste Erkenntnisse zu Otto Weidt präsentiert. Vor gut einem Jahr übernahm die Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) an der Stauffenbergstraße die Verantwortung für das bis dahin organisatorisch dem Jüdischen Museum angegliederte kleine Museum. Seither haben GDW-Chef Johannes Tuchel und seine Mitarbeiter beeindruckende Fortschritte erzielt: Der Umkreis von Otto Weidt, ohne den die Unterstützung verfolgter Menschen unmöglich gewesen wäre, ist weitgehend erforscht; es sind zahlreiche bislang unbekannte Materialien erstmals dokumentiert; die Gedenkstätte ist modernisiert und mit einem Aufzug für ältere und behinderte Besucher zugänglich gemacht worden.

Die auf den ersten Blick hoch erscheinende Summe von insgesamt 900 000 Euro für Ausbau und Ausstellung wirkt angesichts des Ergebnisses sehr angemessen. Gerade, wenn man zum Vergleich den provisorischen Ausstellungszaun von Ex-Kultursenator Thomas Flierl am Checkpoint Charlie heranzieht, der 200 000 Euro gekostet hat.

Doch unmöglich wäre das neue Museum, das dem „stillen Helfer“ Weidt, der von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem postum die höchste Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ erhalten hat, ohne das Engagement von Inge Deutschkron. Die Schriftstellerin arbeitete mehr als zwei Jahre lang zeitweise unter falschem Namen in der Blindenwerkstatt. Otto Weidt beschaffte ihr manipulierte Papiere, mit denen sie die letzten Kriegsmonate überstand.

Das Verdienst von Inge Deutschkron

Inge Deutschkron, die heute in Berlin und Tel Aviv lebt, hat als Vorsitzende des Vereins „Blindes Vertrauen“ wesentlichen Anteil daran, dass ein Museum an den Mut Otto Weidts erinnert - und an die Möglichkeiten, die anständige Menschen auch inmitten des Dritten Reiches hatten.

Das jetzt eröffnete, komplett zweisprachige Museum soll mittelfristig um eine Stiftung ergänzt werden, die an andere stille Helfer erinnert - an jene Menschen, die oft unter hohem eigenen Risiko verfolgten Juden geholfen haben. Erst nach mehr als 50 Jahren ist dieses wichtige Thema ins Bewusstsein gedrungen.