Joachim Braun: "Marginalien"

(erschienen in WELT AM SONNTAG vom 4. Februar 2001)

Es ist wahrscheinlich das kleinste Museum in Berlin – und das bewegendste. Es liegt in der Rosenthaler Straße 39, unmittelbar neben den Hackeschen Höfen. Der Kontrast könnte größer nicht sein: hier der mit vielen Millionen wiederhergestellte Glanz des Jugendstils, ein Haus weiter Verfall, bröckelnder Putz, trostlose Schwärze.

In der Straßeneinfahrt ist eine Gedenktafel in den Boden eingelassen. Man kann sie leicht übersehen. Die Inschrift endet mit dem knappen Satz: „Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben“. Der Lebensretter hieß Otto Weidt. In einem Hinterhof des Anwesens betrieb er Anfang der Vierzigerjahre eine Blindenwerkstatt, die Bürsten und Besen herstellte. Er beschäftigte etwa 30 Mitarbeiter. Die meisten von ihnen waren blinde oder taubstumme Juden, alle Zwangsarbeiter.

Otto Weidt, selbst fast völlig erblindet, war kein Jude, aber ein Pazifist, der die Nazis hasste – und ein Hasardeur. Er organisierte Verstecke für seine Mitarbeiter, beschaffte illegale Ausweispapiere und bestach Gestapo-Spitzel. Zweimal gelang es ihm, seine jüdischen Arbeiter aus Sammellagern zurückzuholen. Siebenmal wurde er selbst verhaftet.

Wir hätten die Geschichte dieses Mannes wohl nie erfahren, wäre nicht eine seiner Angestellten die spätere Schriftstellerin Inge Deutschkron gewesen. In mehreren ihrer Bücher hat sie „Papa Weidt“ ein Denkmal gesetzt. Dass nun auch der Ort zugänglich ist, an dem sich diese Geschichte vor sechzig Jahren zugetragen hat, verdanken wir der Initiative von ein paar Studenten der Museumskunde. Eine von ihnen absolvierte in einer Galerie auf dem Gelände ein Praktikum. Dort hörte sie von Otto Weidt. Drei Räume der einstigen Blindenwerkstatt, die „Zurichterei“ in der ersten Etage, waren ungenutzt, voll von Schutt und mit freiem Blick zum Himmel. Dort organisierte sie zusammen mit ihren Kommilitonen die Ausstellung „Blindes Vertrauen – Versteckt am Hackeschen Markt 1941-1943“. Die Ausstellung war ein Erfolg. Einflussreiche Fürsprecher sorgten dafür, dass sie als ständige Einrichtung in die Obhut des Jüdischen Museums kam.

Was dieses winzige Museum so eindrucksvoll macht, sind weniger die bescheidenen Exponate: ein paar alte Maschinen, Tische und Bänke, Fotos und Briefe, eine Schuhbürste und ein Judenstern, beide gestiftet von einem Mitarbeiter, der überlebt hat. Das eigentlich Aufregende ist der Ort selbst, vor allem der dritte, der kleinste Raum. Nur der alte Ofen steht noch da, sonst ist er völlig leer. Damals versperrte ein Schrank die Tür. Dahinter versteckte Otto Weidt ein halbes Jahr lang eine vierköpfige jüdische Familie, bis jemand sie an die Gestapo verriet.

Einen so authentischen Ort gibt es in Berlin wohl kaum ein zweites Mal. Hier, mitten in der Stadt und unter den Augen der Gestapo, hat vor sechzig Jahren ein mutiger, schwer behinderter Mann sein eigenes Leben riskiert, um jüdischen Mitbürgern das Leben zu retten.