Tobias Krone: "Das Versteck in der Rosenthaler Straße"

(erschienen in der TAZ vom 27. Januar 2015)

Das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt erzählt vom stillen Widerstand. Der Mut eines blinden Mannes rettete Leben. Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Die Stadt Oswiecim, damals Auschwitz, ist 554 Kilometer vom Hackeschen Markt entfernt. Ein weiter Weg für einen Blinden, beschwerlich in den Kriegstagen 1944. Und doch nimmt der Werkstattbesitzer Otto Weidt die Reise auf sich. Offiziell, um den SS-Leuten im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau seine Bürsten zu verkaufen. In Wahrheit aber ist er wegen seiner Mitarbeiterin Alice Licht dort. Weidt will sie vor der Ermordung durch die Nazis retten.

In Auschwitz erfährt er, dass sie in das Konzentrationslager Groß-Rosen verlegt worden ist, Weidt reist also dorthin. Über einen Mithäftling lässt er ausrichten, dass er für sie Kleidung und Geld in einer Pension deponiert hat. Licht erhält die Nachricht, kann mit Glück bei der Auflösung des Lagers 1945 fliehen - und nach Berlin zurückkehren. Die Art, mit der Otto Weidt seine Mitarbeiter vor dem Schicksal Millionen anderer Juden rettete, grenzt an ein Wunder.

Ein blinder Held

Heute besichtigen Tausende Besucher jährlich die einstigen Produktionsräume im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39, seit 1998 zeigt sie das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt und erinnert an die couragierte Leistung des Anarchisten und Nazigegners. Weidt ist bekannt, wohl auch wegen der jüngsten ARD-Verfilmung "Ein blinder Held". "Wir stehen in jedem Reiseführer", stellt Museumsleiterin Katja Döhnel zufrieden fest. 2014 waren es 86.000 Besucher, darunter viele Schulklassen: "Für die Schüler ist Otto Weidt ein Held." Auch Israelis kämen nun in so großer Anzahl, dass der Ausstellungskatalog inzwischen auch auf Hebräisch erhältlich ist.

Weidts Clou damals: Von der Wehrmacht erhielt er einen Großauftrag. Damit erlangte seine Bürstenproduktion den Status der "Wehrwichtigkeit", der auch seine Arbeiter vorerst vor Deportationen schützte. "Wie er den Großauftrag bekam, wissen wir heute nicht", sagt Katja Döhnel. Bekannt ist, dass Weidt gut verhandeln konnte - und wenn nötig mit Schmiergeld nachhalf. Als die Gestapo 1942 seine Belegschaft in das Deportationssammellager in der Hamburger Straße bringt, gelingt es ihm, dass seine Arbeiter freigelassen werden. Weidt hatte die Beamten bestochen. Doch 1943 werden die meisten von ihnen von der Gestapo nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie ermordet werden. Eine Familie versteckt Weidt in einem fensterlosen Nebenraum seiner Werkstatt. Sie wird aber von einem jüdischen Kollaborateur verraten und 1943 nach Auschwitz deportiert.

Otto Weidt entgeht der Verhaftung durch Bestechung der Gestapo. Das Versteck und Teile der Werkstatt sind in ihrem Anstrich original erhalten und zu besichtigen.

Der blinde Held wurde 1976 posthum von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt, eine Auszeichnung für Nichtjuden, die im Nationalsozialismus Juden geholfen haben. Gestorben war Weidt bereits 1947 - als armer Mann.