Inge Deutschkron: "Der Dank einer Überlebenden"

(erschienen in DER TAGESSPIEGEL vom 11. Dezember 2006)

Meine Erinnerung an den „stillen Helden“ Otto Weidt und seine Berliner Blindenwerkstatt

Es ist für mich eine große Freude – fast möchte ich es als ein Wunder bezeichnen –, dass ich mit Ihnen gemeinsam die Wiedereröffnung des Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt begehen kann. Ich habe in jener schrecklichen Zeit zwei Jahre in der Werkstatt gearbeitet und verdanke Otto Weidt, dass ich heute hier stehe.

Gleichzeitig empfinde ich ein überwältigendes Gefühl der Genugtuung, dass dieser Ort, der von so viel Leid und Not geprägt war, und von dem zugleich das höchste Maß an Mut und Menschlichkeit ausging, nun jungen Menschen offen steht – zur Bewunderung und zum Nachdenken über das Recht eines jeden Menschen auf Leben auf dieser Erde.

Als eine Überlebende, die von 20 mutigen Berlinern gerettet worden ist, ließ mich der Gedanke nie los, ich müsste der ganzen Welt mitteilen, dass es auch in Nazi-Deutschland Menschen gegeben hat, die ihren Kopf riskierten, um andere aus den Klauen der Nazimörder zu retten. In England, wo ich die ersten Nachkriegsjahre verbrachte, glaubte mir niemand. In den USA wurde ich noch vor wenigen Jahren der Lüge bezichtigt, als ich von diesen Helden sprach. Nur der Staat Israel ehrte Retter von Juden, auch wenn es Deutsche waren.

Noch heute sehe ich den blinden Otto Weidt vor mir, wie er zur Zeit der Deportationen von Juden immer wieder zur Gestapo eilte, auch wenn es nur um einen seiner 30 jüdischen blinden Bürstenmacher ging. Er könne doch nicht die Aufträge der Wehrmacht für Besen und Bürsten erfüllen, wenn man ihm seine Arbeiter wegnähme. So argumentierte er dort. Wohl schauspielerisch glänzend vorgetragen, überzeugte er jene damaligen Herren über Leben und Tod ein ums andere Mal. Ein Paket, das er bei seinen Gängen zur Gestapo meist unter dem Arm trug, fehlte gewöhnlich bei seiner Rückkehr. Es mag zum Wohlwollen der Gestapo ihm gegenüber beigetragen haben und damit auch zur zeitweiligen Rettung seiner jüdischen Blinden. Dies erlaubte ihm wohl auch, dass er eines Tages seine gesamte blinde Belegschaft vor der Deportation bewahren konnte.

Im Zuge einer Aktion gegen behinderte jüdische Menschen waren seine Blinden von der Werkbank weggeholt worden. Ich habe noch immer die verzweifelten Worte der Rosi Katz im Ohr: „Ich habe ja noch nicht einmal eine warme Jacke für die Reise.“ Weidt aber überzeugte die Gestapo, dass er ohne diese Arbeiter nicht mehr produzieren könnte. Er selbst ging zum Sammellager in der Großen Hamburger Straße, um sie zurückzuholen. Zeugen haben gesehen, wie Weidt seine Blinden aus der Großen Hamburger Straße über die Oranienburger in die Rosenthaler Straße zurückführte. Er an der Spitze, hinter ihm seine Blinden, einer den anderen stützend, noch in der Arbeitskleidung mit dem „Judenstern“ an der Lederschürze, in der sie geholt worden waren.

Otto Weidt sorgte dafür, dass wir nicht Hunger litten. Die Lebensmittelrationen für Juden wurden jeden Monat kleiner, Weidt trieb Zusätze auf. Manchmal versuchte er uns mit einem Glas Wein von unseren Ängsten abzulenken. Den Blinden brachte er Tabak, von dem man damals annahm, dass er die Nerven stärkte. In Kaufhäusern tauschte er Besen gegen Kleidungsstücke. Wenn die Wehrmacht Lieferungen anmahnte, lieferte er einen kleinen Posten mit der Erklärung, mehr sei wegen Materialmangel im Augenblick nicht möglich. Drei seiner ihm vom Arbeitsamt vermittelten Mitarbeiter beschäftigte er im Büro. Das war für Juden streng verboten. Alice Licht wurde seine tüchtige Sekretärin, Werner Basch sein akribischer Buchhalter. Für mich erfand Weidt die Tätigkeit einer Expedientin, ohne die die Firma Weidt wohl hätte auskommen können.

Als Weidt erfuhr, dass die Nazis beschlossen hatten, alle noch in Berlin lebenden Juden in Vernichtungslager deportieren zu lassen, suchte er Verstecke für einige seiner Mitarbeiter. Eins davon können Sie in diesem Museum besichtigen. Er trennte den letzten Raum mit einem Schrank ab. Dahinter lebten vier Personen. Chaim Horn, der Leiter der Zurichterei, seine Frau und seine zwei Kinder. Ein Laden in der Neanderstraße (heute Heinrich-Heine-Straße) diente Alice Licht und ihren Eltern als Versteck. Er bewog Freunde, weitere Verstecke zur Verfügung zu stellen. Alle Versteckten beschäftigte er in seiner Werkstatt – nun als Illegale, versteht sich.

Die Unvorsichtigkeit eines Versteckten führte dazu, dass die Gestapo eines Tages alle verhaften konnte. Weidt erreichte noch in dieser prekären Situation, dass die meisten in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt eingewiesen wurden und nicht sofort in das Vernichtungslager Auschwitz. Mit seinen Bestechungen hatte Weidt offensichtlich Gestapo-Beamte gefügig gemacht.

Wir alle, die wir das Glück hatten, bei Weidt arbeiten zu dürfen, verehrten ihn, nannten ihn Papa. Er lebte mit uns, teilte unsere Sorgen, gab uns ein Stück Selbstachtung zurück. Er tat etwas für jene Zeit Unglaubliches: Er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, half, uns aufzurichten. Mich, die 19-Jährige, lehrte er, auf diese Weise mit dem Unfassbaren fertig zu werden, und gab mir die Kraft, die folgenden Jahre in Verstecken zu überstehen. Er starb im Dezember 1947, er war 64 Jahre alt. Seinem Herzleiden hat das Leben mit uns sicher nicht gut getan. Am Tage seines Todes war er allein.

Wir, denen er zum Überleben verholfen hat, hatten Deutschland am Ende des Krieges meist schleunigst verlassen. Ich verbrachte acht Jahre in England. Ich ging schließlich nach Bonn, im Glauben, ich könnte am Aufbau der Demokratie mittun. Dort aber regierte eine Atmosphäre, als hätte es in Deutschland nie eine fürchterliche Vergangenheit gegeben, als wären nie von Deutschen Verbrechen an Juden, Oppositionellen, Sinti und Roma begangen worden, als hätte es keine 55 Millionen Tote als Folge des von Nazi-Deutschland angezettelten Krieges gegeben. Alte Nazis saßen in hohen Positionen, ihr Einfluss war spürbar. Alle meine Versuche scheiterten, Interesse an Otto Weidt zu wecken und an anderen, die unter Einsatz ihres Lebens jüdische Menschen retteten. Dabei waren sie doch Helden, auf die dieses Land hätte stolz sein können: Sie stellten Normen des Gewissens auf. Ich erkannte schließlich die Sinnlosigkeit meines Tuns und wanderte nach Israel aus.

Im Jahr 1988 sah ich die Räume der Blindenwerkstatt Otto Weidt wieder. Sie waren unverändert. Die Erinnerung warf Schatten an die Wände, Schatten von Menschen und von "Judensternen". Die hölzernen Treppenstufen, die schäbigen Dielen knarrten unter meinen Tritten – genau wie einst, wenn wir uns vor der Gestapo zu verstecken suchten.

Wir haben seit 1999 alles getan, um dem Aufbau eines Museums gerecht zu werden. Heute nun öffnen wir unsere aktualisierte Dauerausstellung. Wir wollen, dass kommende Generationen so genau wie möglich über jene schreckliche Zeit erfahren. Nicht nur die trockenen Fakten, die von Verbrechern geprägt wurden, die über Tod und Leben entschieden. Und nicht nur von Menschen, die ihnen gehorsam waren. Sondern von den Tagen und Nächten, in denen Angst das Leben diktierte und in denen der stille Schrei um Hilfe Gehör fand.